Sie wirkt wie das Mädchen aus der Oberstufe, die sich stets als erste nach Fragen der Lehrerin meldet, dann aber lieber eine eigene Gegenfrage stellt als eine Antwort zu geben. Sie schwimmt durch ihre ersten Interviews wie eine Olympionikin, ohne jemals altklug oder einfach nur gut trainiert zu erscheinen. Und deshalb wundert es auch niemanden, dass Natalie Anelly auf ihrem Debütalbum singt, als habe man es mit einer Bekannten aus grauer Vorzeit zu tun. Sie hat diese Platte halt erst dann aufgenommen, als die Zeit reif war. Ihre Biografie liest sich ein bisschen wie ein modernes Märchen. Als Kind sang Natalie Anelly auf den Firmenfeiern ihres Vaters, bis der sie irgendwann mitnahm zur Staatsoper Stuttgart und sie dem dortigen Kinderchor empfahl. „Kurz darauf“, erinnert sich Anelly, „spielte ich ganz unversehens in drei Opern mit und hatte meine erste musikalische Familie. Bis ich halt doch anfing, mich in eine ganz andere Richtung zu entwickeln.“ Da war sie gerade einmal 15 Jahre alt, „ich hörte Anita Baker und Kate Bush und hatte so eine vage Ahnung, dass mir solche Musik doch weit mehr entspräche als die Oper.“ Die übrigens verließ Natalie dann auch mit jenen 15 Lenzen, „um mich erstmal nur so umzugucken. Ich sang zum Halbplayback und stieg in eine Coverband ein.“ Der Zufall spielte eine große Rolle in ihrem Teenagerleben, „mein englischer Tennislehrer, der wohl irgendwann von meiner Singerei auf dem Platz genervt war, ebnete mir den Weg in diese Band.“ Nach einer Tour durch Deutschland kam der nächste Zufall, „ein Anwalt, der mich auf der Bühne gesehen hatte, sprach mich an, ob ich nicht Lust auf eine Studioproduktion hätte.“ Sein Klient Vilko Zanki hatte das Studio, Natalie hatte die Lust. Was dann begann, war die lange, kreative Suche nach dem passenden Repertoire für eine Sängerin, wie es sie in diesem Lande nicht allzu oft gibt. „Ich sprudelte hinaus“, sagt Anelly heute, „was mir alles so gefiel, aber ständig fragte man mich, was ich denn Eigenes zu machen gedenke.“ Manch andere hätte jetzt vielleicht aufgegeben, das aber ist die Sache dieser jungen Frau nun wirklich nicht. „Nein, ich fing an, eigene Texte zu schreiben und die Musik auch gleich dazu. Ein Ausprobieren ohne jede Erfahrung, oft standen am Ende nur ein paar Bruchstücke eines möglichen Songs, manchmal war es aber auch mehr.“ Im „Kangaroo Studio“ der Brüder Vilko und Edo Zanki wurde dann ausprobiert, die Musiker, Songwriter, Techniker und Natalie Anelly warfen sich die Bälle zu, „wir suchten nach dem richtigen Sound. Was fühlt sich gut an, was klingt authentisch?“ Natalies Vorstellung von der Musik, die zu ihr passt, hat sich dabei „ziemlich drastisch geändert. Ich versuche inzwischen, mit meiner Stimme alles auszuprobieren, weil ich herausfinden will, was ich wirklich will und kann.“ Was sie kann ist eine ganze Menge, dafür steht ihr Album-Debüt. Da schimmert ihre alte Liebe Soul noch durch, da stehen Balladen neben Uptempo-Nummern und machen Texte zwischen kess, klug und kaminabendmelancholisch hellhörig. „Am Ende“, lacht Natalie Anelly, „waren viel mehr Frauenthemen drauf, als ich erwartet hatte.“ Was genau ist denn ein Frauenthema? „Naja“, Natalie lässt das Lachen zum viel sagenden Lächeln werden, „halt so Geschichten wie: Frau hängt am Telefon, der Kerl redet nur über sich und fragt kein einziges Mal, wie’s ihr gerade geht. Hat jede Frau schon mal erlebt.“ Ein kurzer Blick gen Decke, dann noch einer zum Boden, „oder der beste Freund ist plötzlich nicht mehr nur der beste Freund, man hat das Gefühl, hey, da ist ja ganz schön viel mehr.“ Und weil Natalie Anelly halt kein gefühlsduseliges Ding ist, stehen solchen Themen auch Songs wie „Metropolis“ gegenüber, „weil ich gedankenvolle Texte sehr, sehr gern habe. Ich philosophiere auch oft stundenlang und überlege mir, wie sich dieses oder jenes Gefühl wohl in Worte fassen ließe.“ Einer ihrer Songfavoriten übrigens hat es am Ende doch aufs Album geschafft. Ein Déjà-Vu für die Generation ihrer Eltern, eine Neuentdeckung vielleicht für Natalies Altersgenossen: Paul Simons „50 Ways To Leave Your Lover“ in seiner 1983 von Ulla Meinecke geschriebenen und gesungenen, der einzigen von Simon autorisierten deutschen Version. Die „50 Tipps“ mit der Stimme von Natalie sind fast so schön und ungefähr so charmant wie die 21-Jährige und ihr erstes Album. Die Welt des Pop darf sich glücklich schätzen, dass Natalie Anelly der Oper Adieu gesagt hat.