Bands mit mehr oder minder starken Frauen am Mikrofon gibt es hierzulande jede Menge. Und wenn man sich die Charts anguckt, könnte man glatt denken, dass sich wirklich was getan hat in Punkto Geschlechterverhältnisse im Pop. Hört man genauer hin, merkt man, dass diese Bands dieselben Mainstream-Stereotype wiederholen und im Grunde furchtbar langweilig und nichtssagend sind. Endlich durchbricht eine Band die Konsens-Dominanz: DOCTORELLA. Die Bandgründerinnen, Frontfrauen und Zwillinge Kerstin und Sandra Grether sind wohl die einzigen, die dem Mainstream mit ihrem Wollen und Können, mit ihren Verrücktheiten, mit ihren Ideen und faszinierenden Vorstellungen von sich und der Welt, das nötige Futter und gleichzeitig die nötige Abstinenz verordnen und geben können. Sie sind Teil des Pop-Betriebs, sie brauchen und sabotieren ihn, sie lieben und sie hassen ihn. DOCTORELLA aus Berlin überzeugen auf ihrem Debütalbum Drogen und Psychologen“ mit fantasievollen, drastischen Texten und glamourösem Pop mit Underground-Prägung. Lass uns Märchenwesen sein“ singen DOCTORELLA und wollen das nicht als Gute-Laune-Klischee verstanden wissen, sondern als konkrete Aufforderung, als Anstiftung zum Utopisch-Sein. Denn Kerstin und Sandra Grether, Zwillingsschwestern und streitbare, nie leise, aber stets charmante Chefinnen von DOCTORELLA, haben schon immer Sachen gemacht, die es vorher noch nicht gab: als blutjunge Teenager aus der Kleinstadt ein Fanzine erfunden, kurz darauf nach Köln gezogen und für Musikzeitschriften wie Spex und Intro kluge, scharfsinnige Artikel geschrieben, die in der jungsdominierten deutschen Poplandschaft bis heute unvergleichlich und einzigartig sind. Nächste Station der Schwestern: Hamburg. Dort – und das hatte es erst recht noch nicht gegeben – gründet Sandra Deutschlands erste und einzige Riot Grrrl-Band Parole Trixi, deren Album Die Definition von süß“ (ZickZack\u002FWhat´s So Funny About) in der Plattensammlung jeder coolen Feministin steht. Kerstin schreibt mit Zuckerbabys“ den ersten Poproman mit wirklich relevantem, weil todernstem Hintergrund. Zu Madonnas 50. Geburtstag, Kerstin und Sandra leben inzwischen in Berlin, stellen die beiden eine vielbeachtete Anthologie zusammen; 2011 organisieren sie den Berliner Slutwalk mit. Überhaupt wird Berlin ganz schnell zu ihrer Stadt, auch weil das TIP-Magazin sie regelmäßig auf die Liste der peinlichsten Berliner“ hebt. Hier in Berlin rufen sie ihre gemeinsame Band ins Leben, was bei so viel Herzblut-Engagement für Dichtkunst, Pop und Feminismus fast zu schön ist, um wahr zu sein. Aber Märchenwesen können alles, sie träumen den „übernächsten Traum“, wie es in einem DOCTORELLA-Song heißt, und: die Grethers machen ihn wahr. Dabei sind DOCTORELLA nicht einfach vom Himmel gefallen, drei Jahre feilen die Schwestern an Konzept und Line-up (zu frühen Besetzungen gehörten Andreas Spechtl von Ja, Panik, Jens Friebe, Elmar Günther und Herman Herrmann), bis mit Mesut Molnár am Schlagzeug und Jakob Groothoff (im anderen Leben Betreiber des Hamburger Plattenladens Hanseplatte) am Bass alles perfekt passt. Mit Drogen und Psychologen“, produziert von Tobias Siebert, erscheint Ende März 2012 endlich das lang ersehnte Album. In DOCTORELLA verbinden sich (Zitat Kerstin) „Strokes und The Knife, Blumfeld, Blondie und Ideal mit einem Schuss Hildegard Knef“. Von Gitarristin Sandra stammt der Rock-, von Keyboarderin Kerstin der Pop- und Chanson-Appeal, singen und songschreiben tun sie beide. Zusammen klingt das so toll, dass man es glatt für selbstverständlich hält, dass DOCTORELLAS Lyrics - auf deutsch und englisch und manchmal auch gemischt – radikal romantisch und rebellisch-dekadent sind und uns auf „die Zeit nach der Bohème-Revolution“ vorbereiten. Kerstins und Sandras brillante Analysen, die sich in T-Shirt-tauglichen Zeilen wie „Die Reichen tragen schwarz“ niederschlagen, sind aber heute genauso wenig selbstverständlich wie zu ihren Spex-Zeiten und deshalb umso wichtiger, dringender, nötiger. Danke, DOCTORELLA, ihr ganz realen Märchenwesen!